Kinder haben ein Recht auf Religion!

Zahlreiche Rechtsansprüche der Kinder sind bis heute nicht wirklich erfüllt. Kinderrechte markieren eine wesentliche Zukunftsaufgabe. Daneben gibt es noch immer Rechte, die kaum ins Bewusstsein eingedrungen sind. Dazu gehört das Recht des Kindes auf Religion.

Kinderrechte auch auf Religion?

1924 wurde die erste Erklärung der Kinderrechte verabschiedet. Damals hieß es: „Dem Kind muss ermöglicht werden, sich auf normale Weise zu entwickeln, in materieller und in spiritueller Hinsicht“. Demnach schließt die Entwicklung des Kindes auch eine „spirituelle“ Dimension ein.
Es hat bis 1989 gedauert, ehe die Vereinten Nationen die maßgebliche Kinderrechtskonvention verabschiedeten. Wer diesen Text liest, findet keinen Hinweis mehr auf die „spirituelle Entwicklung“. In Artikel 14 des Übereinkommens werden zwar die „Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit“ des Kindes sowie das Recht der Eltern, das Kind dabei „in einer seiner Entwicklung entsprechenden Weise zu leiten“, hervorgehoben – nicht gewährleistet wird hingegen, dass Kinder auch in religiöser Hinsicht begleitet werden und dass ihnen entsprechende Bildungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen.
Gehört das Recht des Kindes auf Religion nicht zu den originären Kinderrechten, weil nur von der „körperlichen, geistigen, seelischen, sittlichen und sozialen Entwicklung“ (Artikel 27) die Rede ist? Man muss schon zum englischen oder französischen Text greifen, um zu entdecken, dass die Kinderrechtskonvention durchaus das Recht des Kindes auf Religion bestätigt. Denn dort ist auch von der „spirituellen Entwicklung“ die Rede, die im Deutschen dann, reichlich blass oder sogar verfälschend, mit „seelische“ Entwicklung wiedergegeben wird.
Immer wieder begegnet mir der Einwand: Einsatz für Kinderrechte und für religiöse Erziehung, das gehe doch wohl nicht gut zusammen! Kinderrechte stünden für Selbstbestimmung, während religiöse Erziehung Zwang bedeute. Häufig erwächst dieser Einwand aus eigenen biographischen Erfahrungen, besonders aus negativen Erfahrungen mit religiöser Erziehung. Deshalb ist es mir wichtig, von Anfang an zu betonen, dass religiöse Erziehung kindgemäß und freiheitlich sein muss.

Warum brauchen Kinder Religion?

Viele Eltern haben den Wunsch, Kindern zu geben, was sie brauchen. Die Ratgeberliteratur gibt dazu viele Antworten: Kinder brauchen Mütter und Väter, brauchen Bücher, brauchen Märchen, brauchen Zeit – und wie die manchmal allzu vielen Ratschläge sonst noch heißen. Nur selten wird deutlich gemacht, warum Kinder religiöse Begleitung brauchen, obwohl inzwischen auch die Psychologie auf die Bedeutung von Religion für eine gesunde Entwicklung hinweist.
Von Anfang an machen Kinder Erfahrungen, die religiös bedeutsam sind – Erfahrungen von Geborgenheit und Verlassensein, Angst und Hoffnung, Trauer und Sehnsucht. Auch wenn ihnen die Worte für solche Erfahrungen noch fehlen, sind dies für die Kinder selbst Erfahrungen von letzter Bedeutung, Erfahrungen mit den Grenzen des Lebens. In diesem Sinne bringen Kinder eine Offenheit für Transzendenz schon vor aller Erziehung mit.
Was mit ihrer religiösen Offenheit geschieht, ist damit freilich noch nicht gesagt. Wenn Kinder religiös sprachfähig werden, wenn sie religiöse Symbole und Rituale kennen lernen sollen, dann brauchen sie eine Begleitung, die ihnen Zugänge zu den religiösen Traditionen und Gemeinschaften eröffnet.
Dies tritt vielen Eltern vor allem bei den großen Fragen der Kinder vor Augen: „Wo wohnt Gott eigentlich?“, „Kommen die Toten in den Himmel?“, „Warum sagen manche Kinder zu Gott Allah?“ – Das sind nur einige der Fragen, die Kinder scheinbar unvermittelt stellen. Solche Fragen zeigen, dass ihre Vergewisserungs- und Orientierungsbedürfnisse weit über die Alltagswelt hinausreichen und eine transzendente Dimension aufweisen.
Religiöse Erziehung und Werteerziehung sind nicht dasselbe. Die Frage nach Gott reicht weiter als die nach gut und böse. Dennoch trägt die religiöse Erziehung wesentlich zur Werteerziehung bei. Im christlichen Glauben können sich Kinder als Teil von Gottes Schöpfung erkennen und damit auch der Schöpfungsgemeinschaft aller Menschen bis hin zu den Pflanzen und Tieren.
Welchem Glauben Kinder in ihrem Aufwachsen begegnen sollen, kann rechtlich nicht vorgeschrieben werden. Hier kommen die Eltern ins Spiel, die eine inhaltliche Entscheidung stellvertretend für das Kind treffen müssen. Denn anders kann es nicht funktionieren: „Mein Kind soll selber entscheiden! Deshalb will ich es nicht religiös erziehen, sondern warten, bis das Kind selbst entscheidungsfähig ist!“ Wie sollen Kinder entscheidungsfähig werden, wenn sie gar nicht kennenlernen, worüber sie entscheiden sollen?
Für den christlichen Glauben ist die besondere Sorge für das Kind Pflicht und Verheißung zugleich. Vorbild ist die Zuwendung Jesu zu Kindern (Mk 10,14ff., Mk 9,36ff.). Schon im Alten Testament sind Kinder ein Ausdruck des Segens, der Abraham, seinen Kindern und Kindeskindern verheißen wird (1 Mose 12ff.).

Praktische Konsequenzen

Ich beschränke mich auf drei Aspekte:

Erstens muss in der Öffentlichkeit ein Bewusstsein vom Recht des Kindes auf Religion geweckt werden. Es ist nicht richtig, dass religiöse Erziehung nur ein Interesse der Religionsgemeinschaften oder religiöser Träger sei. Wenn Religion ein Recht des Kindes ist, dann muss Kindern tatsächlich diejenige religiöse Begleitung oder Unterstützung gewährleistet werden, die sie für ihr Aufwachsen brauchen. Auch Eltern werden durch eine solche Öffentlichkeitsarbeit unterstützt. Häufig sind Eltern unsicher, ob sie mit diesem Anliegen am Ende doch bloß allein dastünden. Deshalb brauchen auch Eltern Ermutigung und Vergewisserung.

Zweitens muss gewährleistet werden, dass Kinder eine in religiöser Hinsicht anregungsreiche Umwelt erfahren – in der Familie, aber auch in allen pädagogischen Einrichtungen, in Kindertagesstätten ebenso wie in der Schule. Es ist gut, dass die neuen Bildungs- und Orientierungspläne für den Elementarbereich in vielen Bundesländern ausdrücklich auch einen religionspädagogischen Auftrag einschließen, der sich nicht auf Einrichtungen in kirchlicher Trägerschaft beschränkt. Religiöse Begleitung und Bildung muss allen Kindern zugänglich sein!

Drittens müssen wir lernen, die religiöse Erziehung vom Kind her zu denken und zu gestalten. Wenn religiöse Erziehung freiheitlich und kindgemäß sein soll, dann muss sie konsequent als Begleitung der kindlichen Entwicklung angelegt sein. Sie muss die Fragen und Bedürfnisse der Kinder sensibel aufnehmen sowie anregende Angebote machen, die das Kind nicht festlegen, sondern urteils- und entscheidungsfähig werden lassen.

Es ist Zeit, dafür zu sorgen, dass allen Kinder ihr Recht auf Religion wirklich zuteil wird.

Friedrich Schweitzer